Nordrhein-Westfalen

Die Hindus von Hamm

Von Claudia Piuntek | © DIE ZEIT, 01.06.2006

Die Hindus von Hamm - Foto: Rainer Mersmann

Zwischen Kohlekraftwerk, Schlachthof und Baustoffhandel feiern Tamilen die »Göttin der liebevollen Augen«

Im Glitzergewand thront Kamadchi Ampal auf einem festlich dekorierten Wagen und ist von grell bemalten Tierfiguren umringt. Angeführt vom Hindu-Priester, verkünden Trommelschläger und Tempelbläser die Ankunft der Heiligen. Halb nackte Büßer rollen sich über den Boden. Andere Gläubige hängen an Fleischerhaken von geweihten Karren oder folgen der Prozession mit einem Holzgestell auf den Schultern. Das Gesicht einiger Männer ist von Spießen durchbohrt. Sie tun Buße, um Kamadchi Ampal gnädig zu stimmen.

Kamadchi Ampal ist die »Göttin mit den liebevollen Augen«, und bestimmt ist sie auch ein wenig nachsichtig und nimmt ihren Bewunderern nicht übel, dass sie den Prozessionswagen durch unwirtliches Gelände ziehen, um ihr zu huldigen. Seit einigen Jahren wohnt die Göttin nämlich neben Chemiefabriken und Stahlwerken im Industriepark von Hamm-Uentrop. In dem westfälischen Ort steht der größte tamilische Hindu-Tempel Europas. Zum alljährlichen Tempelfest reisen Tamilen aus ganz Europa an, um Kamadchi Ampal ihre Ehre zu erweisen. »Es sind auch einige Exil-Tamilen dabei, die heute in Kanada leben«, sagt der Hauptpriester Sri Paskaran, der in diesem Jahr mit bis zu 20000 Pilgern und Besuchern rechnet. Jedes Jahr strömen mehr Menschen in das Gewerbegebiet. Es hat sich herumgesprochen, dass die Hindus von Hamm sich immer im Juni neben dem Kraftwerk versammeln, um inbrünstig Kokosnüsse zu zerschmettern und in Trance den Tempel zu umrunden. Das spirituelle Spektakel im Straßenverlauf Siegenbeckstraße, Zollstraße und Kranstraße zieht zunehmend auch Nichthindus mit folkloristischen Neigungen an, die schon rund ein Viertel der Besucher ausmachen. »Es kommen viele Menschen aus der Umgebung, aber auch Neugierige extra aus Hamburg oder München angereist«, erzählt der Priester. Sri Paskaran ist Bürgerkriegsflüchtling aus Sri Lanka. Er ließ sich in seiner Heimat und in Indien zum Priester ausbilden. Vor 21 Jahren betrat er Hammer Boden. Ungläubige würden es Zufall nennen, er selbst glaubt an eine göttliche Vorsehung, dass er, vom Hunger getrieben, ausgerechnet in diesem Städtchen am Rande des Ruhrpotts den Zug verließ. Der Hindu-Geistliche hatte den Wink der Götter verstanden, er sollte genau hier einen Tempel für Kamadchi Ampal bauen. Den ersten Gebetsraum richtete er im Keller eines Mietshauses ein, später zogen die Hindus in eine Wäscherei um. 1993 feierten sie ihr erstes Tempelfest und präsentierten ihre Göttin in der Öffentlichkeit. Kamadchi Ampal segnete die Stadt und ihre Bewohner. Der spirituelle Lokaltermin entwickelte sich in den Folgejahren zum populären Tempel-Event, langsam, aber sicher avancierte Hamm zur Hauptstadt der Exil-Tamilen.

Den Segen aller Hammer Bürger erhielt Kamadchi Ampal indes nicht. Anwohner beschwerten sich über zugeparkte Straßen und laute Trommelmusik während des jährlichen Tempelfestes. Die Stadtverwaltung bot Sri Paskaran ein Grundstück im Industriegebiet an. In dem Areal zwischen Kohlekraftwerk, Schlachthof und Baustoffhandel gibt es keine nörgelnden Nachbarn, Parkplätze dagegen sind im Überfluss vorhanden. Außerdem ist der angrenzende Datteln-Hamm-Kanal der ideale Ort für rituelle Waschungen. Der Priester war glücklich, den geeigneten Standort für seinen Tempelneubau gefunden zu haben. Bei der Suche nach einem Architekten vertraute Sri Paskaran wieder den göttlichen Mächten und ließ eine deutsche Freundin mit dem Finger ins Branchenbuch tippen. Ein Volltreffer, wie sich später herausstellte: Baumeister Heinz-Rainer Eichhorst schaffte es, religiöse Vorschriften mit deutschem Baurecht in Einklang zu bringen. Mit der Hilfe indischer Tempelbaukünstler errichtete er das rot-weiß gestreifte Götterhaus nach südindischem Vorbild. Nur die Fußbodenheizung ist ein Zugeständnis ans deutsche Klima, schließlich müssen die Pilger ihre Schuhe im Tempelvorraum abgeben.

»Kamadchi Ampal erlöst uns von Krankheit und finanzieller Not«, sagt der Priester zur Wahl seiner Tempelgöttin. Schon wieder hatte er die richtige Eingebung. Die finanziellen Nöte beim Tempelbau waren schnell überwunden, Sri Paskaran konnte das 1,8 Millionen Euro teure Bauwerk komplett aus Spendengeldern finanzieren. Neben Kamadchi Ampal verehren die Hindus im Tempel auch andere Götter wie Ganesh oder Shiva. »Sie alle sind nur Erscheinungsformen unseres Schöpfungsgottes Brahma«, klärt der Geistliche auf.

Im Revier erscheint Brahma den Pilgern bald wieder in Gestalt von Kamadchi Ampal. Vom 1. bis 13. Juni feiern die Hindus von Hamm ihr Jahresfest. Am 11. Juni zwischen 11 und 15.30 Uhr wird die Tempelgöttin auf ihrem prunkvoll geschmückten Wagen sitzen und durch die Straßen des Industrieparks gezogen. Tausende Tamilen werden sie begleiten, Buße tun und ihr zu Ehren kostenlos Reis und Curry austeilen. Und am Tag nach dem großen Umzug werden Gläubige das Bild ihrer Heiligen zum Datteln-Hamm-Kanal tragen und sich unterhalb der Autobahnbrücke zur rituellen Waschung versammeln. Die »Göttin mit den liebevollen Augen« wird ihren Verehrern auch in diesem Jahr den Verkehrslärm und das kalte Wasser nachsehen, denn in Hamm-Uentrop hat sie ein neues Zuhause gefunden. Das hat sie dem Engagement des Hindu-Priesters zu verdanken, der für seinen Einsatz kürzlich den Ehrentitel Pirathisda erhalten hat. Das bedeutet so viel wie »wenn man Unmögliches möglich macht«.

Internet-Seite des Tempels: www.kamadchi-ampal.de.
Tempelarchitekt Heinz-Rainer Eichhorst bietet Führungen an, Termine können unter Tel. 02381/3071650 vereinbart werden.

Der Originalartikel bei Zeit Online

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